Keine andere Einrichtung bei uns ist von so großer, auch internationaler Bedeutung wie die Musikhochschule. Kaum jemand hat eine Vorstellung davon, wie streng die Zulassung zum Studium reglementiert ist. Zum Studienjahr 2015/16 hatten sich 2378 junge Leute beworben, davon sind 1137 zur Aufnahmeprüfung erschienen (48 %), wovon 374, also ein Drittel, bestanden haben. Hiervon konnten jedoch nur 138 (das sind 12 % der Prüflinge) zugelassen werden konnten. Man muss also schon sehr gut sein, um einen der begehrten Studienplätze zu erlangen.
Zur Eröffnung des akademischen Jahrs 2016/17 hielt Rüdiger Nolte, Rektor der Musikhochschule, eine Rede, aus der wir auszugsweise zitieren:
„Die erste Voraussetzung für eine sogenannte künstlerische Professur ist nach wie vor die Meisterschaft – und ich denke, dieser altmodische Begriff kann zunächst sehr wohl verwendet werden…
Was … heißt das, Meisterschaft?
zunächst bezieht sich Meisterschaft auf technisches Können, außerdem auf überzeugende Ausdrucksfähigkeit, was noch relativ nah am technischen Können liegt, drittens meint Meisterschaft die herausragende Fähigkeit zu interpretieren, und damit beansprucht Meisterschaft viertens tiefreichendes kulturelles wie ästhetisches Wissen und
fünftens – sehr wichtig – pädagogische Meisterschaft, worunter im künstlerischen Bereich traditionell zunächst eine erfolgreiche Absolventenbilanz verstanden wird.
… Die ersten beiden genannten Aspekte der Meisterschaft: „technisches Können“ und „Ausdrucksfähigkeit“ und ebenso ein Talent für pädagogisches Können begründen sich wohl eher individuell. Aber die weiteren Bedeutungen künstlerischer Lehre: Interpretation, kulturelles und ästhetisches Wissen sowie pädagogisches Wissen bedürfen der Bildung und damit jener Wissens-Kooperationen, die über individuelle Möglichkeiten hinausgehen. Das aber bedeutet für viele künstlerische Professorinnen und Professoren ein hohes Maß an Bereitschaft, die eigene professorale Identität zu überdenken…
Diese Umorientierung begründet sich auch damit, dass die heutige Kultur klassischer Musik jene selbstverständliche bürgerliche Verankerung verloren hat, die sie im 19. Jahrhundert hatte. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren die Lehrenden mit ihrem Unterricht in der Musik ihrer Gegenwart verwurzelt. Und eben dieser Bezug zur damaligen musikalischen Gegenwart – Chopin, Brahms, Mahler – formte die Rezeption des Vergangenen – Bach, Beethoven. Heute ist es meist so, dass wir unsere Gegenwart überspringen – woran auch immer das liegen mag.
Indem wir damit unsere musikalische Vergangenheit rezipieren als sei sie unsere Gegenwart, übersehen wir, dass sie doch eigentlich Vergangenheit ist – Schumann, Verdi, Webern. Wenn wir aber Musik der Vergangenheit spielen, hören oder unterrichten, als sei sie uns ganz nah, dann tun wir so, als bewegten wir uns in einem von allen historischen Bedingungen unabhängigen Raum. Und genau diese vermeintliche Unabhängigkeit ist als Haltung künstlerischer Lehre problematisch, weil sie nicht die Geschichtlichkeit von Musik respektiert und damit auch nicht von der Bedeutung von Erinnerung ausgeht…
Wobei daran erinnert werden muss, dass nicht nur im 20. Jahrhundert vergessen wurde. Als Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 Bachs Matthäus Passion erstmalig wieder aufführte, geschah das bewusst als Anliegen, dieses Werk aus der Vergessenheit zu befreien und es erklärtermaßen mit Respekt vor dem historischen Original zu präsentieren. Aber Mendelssohn griff trotz aller Authentizitätsansprüche aktiv in die Partitur ein, er veränderte, ließ weg, setzte historisch unkorrekt neue Instrumente ein etc. Mendelssohn war einer der ersten Vertreter des damals ganz neuen Typus eines künstlerischen Musikhochschulprofessors. Obwohl er sehr wohl nach historischen Ursprüngen fragte, verwechselte er mögliches gegebenes Wissen seiner Zeit mit seiner individuellen Meinung darüber, was und wie es richtig sei.
Das gab es also wohl immer. Das Vergessen im 20. Jahrhundert aber war grundsätzlicher, es war vom Verlust des Gegenwartsbezugs geprägt, den Mendelssohn sehr wohl hatte, und es war geprägt von historisch ganz neuen kulturindustriellen Vermarktungsstrategien.
Und heute? Im 21. Jahrhundert? Zum Vergessen gehört leider, dass man es nicht merkt. Doch haben schon seit längerer Zeit neue Erkenntnisse die im 20. Jahrhundert behaupteten Gewissheiten überwunden und die Perspektive neuer künstlerischer Orientierungen eröffnet. Das zeigt sich nicht zuletzt mit neuen Fragen an Ausbildung und künstlerische Bedeutung. In diesem Zusammenhang lässt sich also nicht sagen, dass alles immer nur schlechter wird. Aus den neuen Fragen ergibt sich geradezu sachlich die Chance für Reformen der künstlerischen Lehre. Ich würde mich freuen, wenn wir hier an unserer Hochschule auch diesen Schritt schaffen könnten.“
Die vollständige Rede steht auf unserer Internetseite (oberwiehre-waldsee.de/rede-2016).
K.-E. Friederich