So wichtig es ist, daran zu erinnern, dass Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Frau hier 1837 ihre Flitterwochen verbracht haben, dass sein Sohn Carl Wolfgang Paul Mendelssohn Bartholdy an der Universität in Freiburg nicht nur gelehrt, sondern – wenn ich die Daten richtig lese – aller Wahrscheinlichkeit nach hier in Freiburg auch gezeugt wurde, so richtig es ist, an eine der bedeutendsten Komponistinnen des 19. Jahrhunderts zu erinnern, die immer im Schatten der Männer ihrer Familie stand – so ist dieses Erinnern dennoch nicht der tiefere Grund für diese Benennung.
Der tiefere Grund ist, dass damit eine alte, immer noch uneingelöste Schuld abgegolten wird. Indem man an jenen alltäglichen Antisemitismus erinnert, der in seiner klandestinen bürgerlichen Form die deutsche Romantik durchzog und der im Nationalsozialismus in seiner rohesten und verbrecherischen Form ins Offene trat. Jener Antisemitismus, der eben alle Lebensbereiche der deutschen Geschichte durchdrungen hatte. Ein Antisemitismus, so tiefsitzend, so zäh, so hartleibig, dass man ihn nicht einmal durch die völlige Assimilierung auslöschen konnte: Abraham Mendelssohn, der Vater Fannys und Felixʼ, ließ seine Kinder christlich erziehen und konvertierte 1822 zum Protestantismus. In diesem Jahr nahm er auch den christlich klingenden Familiennamen Bartholdy an, mit dem erklärten Ziel, dass dieser Namenszusatz bei seinen Kindern einstmals an die Stelle des alten, jüdischen Namens treten sollte. (Deswegen ist auch der Name eigentlich nicht mit einem Bindestrich zu verbinden, der hier aus bürokratisch-technisch-formalen Gründen leider eingeführt werden musste.) »Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen«, schrieb der Vater 1829 an den Sohn. »Felix Mendelssohn Bartholdy ist zu lang, und kann kein täglicher Gebrauchsname sein, Du mußt Dich also Felix Bartholdy nennen. […] Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nichts, schon weil es nicht wahr ist.« Und auch wenn Felix Mendelssohn (und ich lasse Bartholdy hier bewusst weg) »diesen Namen, den wir Alle nicht lieben«, wie seine Schwester Fanny es ausdrückte, nicht zum äußeren Zeichen einer christlichen Identität hat werden lassen, so ist doch kaum eine anderer Komponist wie er zum strahlenden musikalischen Repräsentanten des deutschen Staatsprotestantismus geworden: der Komponist des Elias, des Paulus, des Christus, der Reformationssinfonie vor allem, jener monumentalen Sinfonie, die den deutschen Nationalprotestantismus in einer Weise zelebriert, dass man in solch radikaler Affirmation die doppelte Brüchigkeit zu erkennen meint. Es hat ihm alles nichts genützt.
Die historischen Spuren dieses tiefsitzenden Antisemitismus, sie finden sich auch hier, an dieser Hochschule. Ich habe im Saal drinnen jenen Gründungsmythos, den Alexander Dick in seinem durchaus melancholischen Rückblick auf dieses 75-jährige Jubiläum ironisch-distanzierend eine Geschichte genannt hat, die »oft erzählt worden [ist], aber noch nicht von jedem«. Es ist die Geschichte vom großen Aufbruch, von der Stunde null, dem Aufbau des Neuen auf den Trümmern des Alten, der Weg aus dem Dunkel ins Licht. Aber ich möchte an dieser Stelle und zu diesem Anlass auch eine andere Gründungsgeschichte erzählen. Nicht jene des Neuanfangs, sondern jene der Kontinuität, in der die Gründung der Hochschule für Musik als eine Fortsetzung über die Schreckenszeit hinweg erscheint. Eine Gründungsgeschichte, die im Jahr 1926 begonnen hat. Es ist zugleich die Geschichte des Freiburger jüdischen Mitbürgers Erich Katz, eines der geistigen Väter dieser Musikhochschule.
Im Oktober 1926 hatten Erich Doflein, einer der Gründer der Musikhochschule Freiburg, der Organist Ernst Kaller und Erich Katz, der bei Gurlitt promovierte, die »Freiburger Kurse zur theoretischen Musik-Ausbildung und allgemeinen musikalischen Laienbildung« gegründet. Aus ihnen ging 1930 das »Musik-Seminar der Stadt Freiburg« hervor, das der Freiburger Komponist Julius Weismann leitete. Das Musikseminar war bereits eine »Staatlich anerkannte Musiklehranstalt«. Ich kann die Geschichte […] hier nur mit wenigen Worten umreißen, eine deutsche Geschichte, die für so viele andere steht. Katz war eine zentrale Figur des Freiburger Seminars. Er war – wie so viele führende Gestalten der Frühzeit der Freiburger Musikhochschule – ein Pionier der historischen Aufführungspraxis. Später in den USA wurde er eine leading figure des amerikanischen recoder movement. […] Katz war zudem ein produktiver Komponist, ein erklärter Anhänger der neuen Sachlichkeit.
Julius Weismann, der Leiter des Seminars, war ein überzeugter Mitläufer des Regimes, dem 1939 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Freiburg zuerst zuerkannt und nach 1945 gleich wieder aberkannt wurde. Doflein und Katz hingegen gerieten schnell ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten. Doflein konnte sich arrangieren, die Machthaber von seiner Harmlosigkeit überzeugen. Katz, der intellektuelle Kopf des Seminars, wurde 1933 entlassen. Er brachte sich als Organist an der Freiburger Synagoge durch, bis er 1938, nach der Pogromnacht, nach Dachau deportiert wurde. 1939 konnte er nach Großbritannien emigrieren; 1943 schließlich in die USA. Dort wurde er 1946 Professor am berühmten New York College of Music und wechselte 1959 ans City College Santa Barbara in Kalifornien. Katz bemühte sich 1958 vergeblich um eine Wiedergutmachung. Er starb 1973 als erfolgreicher Hochschullehrer und zentrale Figur der amerikanischen historischen Aufführungspraxis. Eine Rückkehr nach Freiburg hat es meines Wissens nie gegeben. In die Erinnerungskultur der Freiburger Musikhochschule hat er sich genauso wenig einschreiben können wie Felix Mendelssohn Bartholdy in die der Stadt Freiburg.
Es gibt kaum eine Bildungsinstitution in Deutschland, die nicht eine Figur, nicht eine Persönlichkeit wie Erich Katz in ihrer Geschichte hat. Und es führt so ein Weg von Felix Mendelssohn Bartholdy zu Erich Katz und zu unserer Hochschule, ein Weg voller Schmerz und Scham. Diese Verbindung der Mendelssohn Bartholdy zu unserer Hochschule ist eine tiefere, substantiellere als jene der rein äußerlichen eines Flitterwochenbesuchs oder der Würdigung einer großen Familie von Musikern und Wissenschaftlern und sie übersteigt auch die Geschichte einer einzelnen Institution und einer Stadtgeschichtsschreibung. Die Leerstelle, die die Stadt Freiburg 1924 gelassen hatte, als sie Felix Mendelssohn Bartholdy keinen Ort zuwies, ist nun geschlossen. Das erinnert uns zugleich an jene vielen offenen Leerstellen, die es immer noch in der Geschichtsschreibung vieler Institutionen und in unserem kulturellen Gedächtnis gibt und die es nach wie vor zu schließen gilt. Der heutige Akt der Namensgebung erinnert uns daran, welch ungeheurer kultureller Verlust mit der Barbarei einherging und wie viel die Musikgeschichte Komponistinnen und Komponisten verdankt, die vertrieben und getötet wurden, weil sie jüdisch waren. Es ist der Musikhochschule Freiburg eine Ehre, dass sie nun am Mendelssohn-Bartholdy-Platz liegen darf.
Prof. Dr. Ludwig Holtmeier