Hochschule für Musik Rede Eröffnung 2016

Die vollständige Rede der Eröffnungsrede der Hochschule für Musik:

Hier in Textform und HIER als Druckversion:

Seit 2011 befinden wir uns an der Freiburger Musikhochschule in einem umfassenden Reformprozess. Es begann mit den Reformen der pädagogischen Studiengänge, dem folgten ab ungefähr 2012 erste Unternehmungen zum Ausbau des Freiburger Standorts als Hochschule mit einem Schwerpunkt wissenschaftlicher Lehre und Forschung.
Und vor einigen Semestern haben wir mit dem vielleicht größten Unternehmen begonnen: mit der Reform unserer künstlerischen Ausbildung.
Anders als für Pädagogik und Wissenschaft steht der Kunst nur eher schwierig ein eigener Diskurs zur Verfügung. Ich möchte eine Annäherung versuchen und über das Selbstverständnis einer Hochschul-Professur im künstlerischen Hauptfach sprechen.
1. Möchte ich über die Meisterschaft sprechen und über Veränderungen der Ausbildungsansprüche,
2. Über unser Erinnern und Vergessen
Die erste Voraussetzung für eine sogenannte künstlerische Professur ist nach wie vor die Meisterschaft – und ich denke, dieser altmodische Begriff kann zunächst sehr wohl verwendet werden.
Der Anspruch auf Meisterschaft ist die wohl älteste der heute noch gültigen Traditionen einer Musikhochschule und setzt außergewöhnliches musikalisches Empfinden voraus sowie außergewöhnliches Talent, sowohl künstlerisches als auch pädagogisches.
Talent und Empfinden sind nun nicht gerade präzise Kriterien und erschweren eine Rede darüber.
Was also heißt das, Meisterschaft?
zunächst bezieht sich Meisterschaft auf technisches Können,
außerdem auf überzeugende Ausdrucksfähigkeit, was noch relativ nah am technischen Können liegt.
Drittens meint Meisterschaft die herausragende Fähigkeit zu interpretieren.
Und damit beansprucht Meisterschaft viertens tiefreichendes kulturelles wie ästhetisches Wissen und
5. – sehr wichtig – pädagogische Meisterschaft, worunter im künstlerischen Bereich traditionell zunächst eine erfolgreiche Absolventenbilanz verstanden wird.
Einen 6. Aspekt nenne ich später.
Als Hochschullehre wurde Meisterschaft lange mit der Überzeugung einer dreiteiligen Erfolgsgarantie verbunden: 1. die Prominenz des Professors/der Professorin, 2. deshalb eine nachgefragte Klasse und 3. damit verbunden die gute Aussicht für die Studierenden, zum Vorspiel oder Vorsingen eingeladen zu werden.
Diese Erfolgsgarantie aber ist nicht mehr stabil.
Warum?
Einerseits liegt das an veränderten Bedingungen eines veränderten Musikmarkts.
So sind die Karrieremöglichkeiten unsicherer geworden. Auch wenn das für manchen Lehrenden für den Qualitätsanspruch eines künstlerischen Studiums für nicht zwingend von Belang ist, so ist doch der Einfluss veränderter Berufssituation auf die Studienmöglichkeit nicht nur nicht zu ignorieren, sondern sehr wohl bestimmend für die Relevanz künstlerischer Ausbildung.
Der lange Zeit klare Weg: Studium- Orchester/Opernbühne oder besser noch Solist funktioniert heute anders.
Bekannt ist, dass es keine Garantie mehr gibt für eine lebenslange Orchesterstelle und das heißt auch, dass diese Perspektive nur eine von mehreren ist. Bekannt ist auch, dass sich immer häufiger der Berufsweg für Musiker als sogenannte Patchwork-Existenz darstellt. Bekannt ist ebenso, dass Pianisten, auch aus dem Spitzenbereich, kaum adäquate Berufschancen haben, die ihren Qualifikationen angemessen wären.
Was die Unsicherheit der genannten Erfolgsgarantie betrifft, so ist außerdem ein verändertes Selbstverständnis künstlerischer Lehre zu beobachten.
Im Gegensatz zu früher verstehen heute viele Professorinnen und Professoren ihren Unterricht weniger als imitativ gestaltetes Meister-Schüler-Verhältnis, sondern stellen sich selber und ihren Studierenden gegenüber weit differenziertere Ansprüche.
Zu nennen wären, ohne dass diese Reihe geordnet oder vollständig wäre:
– die in den letzten Jahren gegenüber solistischer Qualifikation gesteigert gesehene Bedeutung kammermusikalischer Lehre,
– der gesteigerte Anspruch zur Befähigung stilistisch bewusst differenzierten Spiels (alte Musik, neue Musik, reflektierte Romantik). Vor allem bei den Streichern gehört das mittlerweile zum Standard hochqualifizierter Ausbildung und hat seine eigenen Konsequenzen für das künstlerische Selbstverständnis und auch für den traditionellen Bezug auf einen einzigen Lehrer,
– außerdem die in den letzten Jahren auch für das künstlerische Hauptfachstudium gesteigert gesehene Bedeutung von Methodik bzw. Methodik-Vermittlung,
– außerdem das – mehr oder weniger – Ende der strikten Abgrenzung sogenannter Ernster Musik gegen sogenannte populäre Musik.
– außerdem die wieder entdeckte Tatsache, dass improvisatorisches Spiel kein spielerisches „Spontangeklimper“ ist (so ein Zitat), sondern auf der Grundlage tradierter, gelehrter Regeln geschieht. Und daraus folgt, dass Improvisation der Interpretation durchkomponierter Werke nicht widerspricht, weder ästhetisch noch künstlerisch,
– außerdem die Einsicht, dass Spitzenqualität nicht mehr nur als solistisches Spiel zu verstehen ist, d.h. die Entdeckung, dass die Fähigkeit zu hochqualifiziertem Orchester- bzw. Ensemblespiel als eigene Spitzenqualität zu begreifen ist.
Diese Veränderungen zeigen uns u.a. folgendes: die Qualität künstlerischer Lehre erweist sich weniger als Ergebnis subjektiver Meinung der Lehrenden, sondern eher innerhalb der Kombination verschiedener Wissenskompetenzen.
Die ersten beiden genannten Aspekte der Meisterschaft: „technisches Können“ und „Ausdrucksfähigkeit“ und ebenso ein Talent für pädagogisches Können begründen sich wohl eher individuell. Aber die weiteren Bedeutungen künstlerischer Lehre: Interpretation, kulturelles und ästhetisches Wissen sowie pädagogisches Wissen bedürfen Bildung und damit jener Wissens-Kooperationen, die über individuelle Möglichkeiten hinausgehen.
Das aber bedeutet für viele künstlerische Professorinnen und Professoren ein hohes Maß an Bereitschaft, die eigene professorale Identität zu überdenken.
Auf unserer letzten Klausurtagung zum neuen Struktur- und Entwicklungsplan klangen solche Gedanken an. Teilweise kontrovers, zeigte sich für mich doch eine erstaunliche Umorientierung auf Seiten der künstlerisch lehrenden Professorinnen und Professoren.
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Diese Umorientierung begründet sich auch damit, dass die heutige Kultur klassischer Musik jene selbstverständliche bürgerliche Verankerung verloren hat, die sie im 19. Jahrhundert hatte.
Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren die Lehrenden mit ihrem Unterricht in der Musik ihrer Gegenwart verwurzelt. Und eben dieser Bezug zur damaligen musikalischen Gegenwart – Chopin, Brahms, Mahler – formte die Rezeption des Vergangenen – Bach, Beethoven.
Heute ist es meist so, dass wir unsere Gegenwart überspringen – woran auch immer das liegen mag.
Indem wir damit unsere musikalische Vergangenheit rezipieren als sei sie unsere Gegenwart, übersehen wir, dass sie doch eigentlich Vergangenheit ist – Schumann, Verdi, Webern.
Wenn wir aber Musik der Vergangenheit spielen, hören oder unterrichten, als sei sie uns ganz nah, dann tun wir so, als bewegten wir uns in einem von allen historischen Bedingungen unabhängigen Raum.
Und genau diese vermeintliche Unabhängigkeit ist als Haltung künstlerischer Lehre problematisch, weil sie nicht die Geschichtlichkeit von Musik respektiert und damit auch nicht von der Bedeutung von Erinnerung ausgeht.
Indem wir die Musik der Vergangenheit also so spielen und unterrichten, als gehörten wir zu ihr und sie zu uns, verhalten wir uns deshalb geschichtslos, weil wir uns nicht richtig erinnern.
Und das heißt andersrum: weil wir vergessen.
Eine Reform künstlerischer Ausbildung: das meint nicht nur ein bewussteres Nachdenken über unsere gegenwärtige Musikkultur, das meint nicht nur ein Nachdenken über unsere tradierten Ausbildungen, sondern das meint auch die bewusstere Wahrnehmung dessen, dass wir uns mit unserer Lehre vergangener Musikkultur in einem Erinnerungs- oder Gedächtnisvorgang befinden.
Und hier ist das Problem mit unserer musikalischen Gegenwart wichtig. Denn wenn diese Gegenwart von Vergangenem besetzt ist – Brahms, Wagner, Strauss -, dann hat unser Gedächtnis einen falschen Gegenwarts-Ausgang. Unsere Erinnerungsreise in die Vergangenheit setzt bereits bei Vergangenem an. Damit ist unser kulturelles Gedächtnis gestört.
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Was das Selbstverständnis einer künstlerischen Professur betrifft, so möchte ich nun den 6. Aspekt der Meisterschaft nennen, den ältesten überhaupt: das ist die Tradition mündlicher Erfahrungsvermittlung vom Lehrer an den Schüler, von Mund zu Ohr, wie Walter Benjamin schreibt. Gemeint ist eine mündlich vermittelte Traditionsüberlieferung, die aber – und das ist wichtig – weiterreicht als die der nur persönlichen Erinnerungen. Dieser alte Erfahrungsdiskurs war an die Möglichkeit lebendiger Erinnerungskultur gebunden. Und die Lebendigkeit dieser Erinnerungskultur wiederum hatte zu tun mit einem stimmigen Gegenwartsbezug.
Offensichtlich aber ging dieser Bezug zur Gegenwart im frühen 20. Jahrhundert verloren – und damit auch die Kultur der Erinnerung.
Mit der Konsequenz des Vergessens.
Vergessen wurden damals u.a. Traditionen des Musikstudiums.
Vergessen wurde z.B., dass Improvisation und Komposition ein anerkannter Bestandteil künstlerischer Qualifizierung waren.
Vergessen wurden auch instrumentenbauliche Traditionen z.B. die historischer Tasteninstrumente, das allerdings hatte schon im 19. Jahrhundert eingesetzt. Bekannt ist der Fall, dass Cembali mit völlig unhistorischer Technik rekonstruiert wurden.
Vergessen wurde damals auch die bis ins 20. Jahrhundert übliche Spielpraxis differenziert eingesetzten Vibratos und damit ganz anderer Klangmöglichkeiten.
Das alles wurde im 20. Jahrhundert zunächst nicht mehr vermittelt.
Allgemein kann man sagen: vergessen wurde damals die Bedeutung jener Erinnerung, die über die Möglichkeiten der je eigenen persönlichen Erinnerungen hinausgeht. Und es gehört zu den wichtigen und positiven Entwicklungen, dass in den letzten Jahren sehr viel von dem Vergessenen wieder zurück entdeckt, d.h. erinnert wurde.
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Kulturwissenschaftlich wird Gedächtnis als soziales Phänomen gesehen und zwischen Kommunikativem und Kulturellem Gedächtnis unterschieden.
Zur Kennzeichnung jener Haltung künstlerisch-professoraler Lehre, die zwar Tradition beansprucht, die aber so etwas wie Geschichtlichkeit ignoriert, wäre das Kommunikative Gedächtnis zu nennen.
Das Kommunikative Gedächtnis bezieht sich auf erlebbare Vergangenheiten, konstituiert sich individuell oder kollektiv identifizierend mit Gruppen wie Familie, Berufs- oder Interessengruppen, Verbände etc. im Bewusstsein gemeinsamer Vergangenheitsbezüge, die sehr wohl von hoher Erfahrungsbedeutung sein können, die aber gleichzeitig der Gefahr einer großen Fehlerquote unterliegen.
Mit dem Kommunikativen Gedächtnis besteht die Gefahr der Verwechslung von historischer Wahrheit und individueller Meinung.
Als Beispiel solch ungesicherter im 20. Jahrhundert gebildeter Gewissheit wäre zu nennen:
z.B. die Überzeugung von der privilegierten Bedeutung klassischer Musik gegenüber allen anderen Arten von Musik. Das war nämlich keineswegs immer so.
oder die Überzeugung, dass alle denkbaren gestalteten Töne einem einzigen Maß von Klangschönheit unterliegen, dass es also einen nicht-schönen Klang eigentlich nicht geben darf.
Das sind Beispiele für neu formulierte Gewissheiten, die im Moment ihrer Erfindung keiner historisch erinnerbaren Tradition entsprachen.
So war noch im späten 20. Jahrhundert die Empörung gegen historische Aufführungspraxis groß. Da wurde im Namen einer als vollkommen klar empfundenen Wertigkeit und in starker Gruppenidentität eines eigenen Lagers die andere Art zu interpretieren abgelehnt – mit Verweis auf Können und Erfahrung, mit dem Anspruch auf jene künstlerisch-individuelle Autorität, die jedoch nicht beansprucht, nach Begründungen zu fragen. So spielte es bei dieser Kritik keine Rolle, dass sich die abgelehnte Spielweise der historischen Aufführungspraxis auf Quellen bezieht – und nicht auf Meinungen.
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Gehe ich nun noch einen Schritt zurück auf eine allgemeinere Ebene und betrachte kunsthistorische Zusammenhänge als Bedeutung kulturhistorischer Zusammenhänge, dann zeigt sich die Bedeutung einer Kunstprofessur – egal ob bildende Kunst oder Musik – von äußerst hohem Anspruch, weil sie letztlich den Fundus der gesamten Kulturtradition repräsentiert und nicht nur einen individuell geprägten Ausschnitt.
In Unterscheidung zum Kommunikativen Gedächtnis lässt sich hier von Kulturellem Gedächtnis sprechen.
Die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann bezeichnen im Unterschied zum Kommunikativen Gedächtnis als kulturelles Gedächtnis „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen“.
Das sich damit andeutende Kapazitätsproblem innerhalb der Vielschichtigkeit des „generationen-und epochenübergreifenden Gedächtnisses“ regelt sich nach Assmanns u.a. durch sogenannte Archive, deren personen-unabhängige Speicherungen grundsätzlich verschlossen sind, jedoch für Öffnungen bereit stehen. Und hier ist die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung zu nennen.
Die erwähnte Wiederentdeckung historischer Aufführungspraxis wäre ein Beispiel für die Erschließung von vergessener, in ein Archiv abgespeicherter künstlerischer Praxis, die uns lange Zeit nicht zugänglich war.
Der Anspruch vieler Lehrender, ihren Unterricht nur aus der Exzellenz ihrer eigenen Persönlichkeit heraus zu gestalten, beschränkt sich im Normalfall also auf die Dimension dessen, was Assmanns das Kommunikative Gedächtnis nennen.
In Unterscheidung dazu meint Kulturelles Gedächtnis die historisch vertikale Vertiefung sämtlicher kulturellen und auch politischen Spuren und Ereignisse, die, nach meiner Meinung, im Anspruch einer künstlerischen Professur beschrieben ist.
Aleida und Jan Assmann folgend wäre das Kulturelle Gedächtnis mit einem Palimpsest vergleichbar, das unendlich viele Überschreibungen, d.h. Spuren, aber auch Speicherungen aufweist.
Das aber überfordert nun endgültig die Möglichkeiten einer einzelnen Person. Aber darum soll es auch gar nicht gehen, sondern um eine entsprechende Haltung. Um die Haltung des einzelnen gegenüber der Tiefe und Bedeutung des Ganzen.
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Komme ich zurück zur Reform künstlerischer Ausbildung, so beabsichtigt sie zumindest dreierlei:
1. die Einsicht, dass zur Lebendigkeit unseres künstlerischen Erlebens auch die Möglichkeit von Quellen- oder überhaupt von historischer Forschung gehört. Das ist eben kein Gegensatz.
2. die Einsicht, dass es die Dimensionen der künstlerischen Lehre erforderlich sein lassen, den Gesamtkomplex aller universitären Lehr-Disziplinen im Sinne der Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses zu respektieren und die Qualität des künstlerischen Studiums innerhalb dieses Gesamtzusammenhangs zu begreifen.
3. die um nichts zu vernachlässigende Einsicht, dass zu den Voraussetzungen künstlerischer Lehre sehr wohl die tiefe Bedeutung individueller künstlerischer Erfahrung gehört.
Gerade weil das Ausmaß des Kulturellen Gedächtnisses von solcherart Tiefe ist, sollten wir uns weniger als Zentrum unserer je eigenen Erinnerungen verstehen, sondern als Teil eines viel weiter reichenden Zusammenhangs. Denn es ist wirklich kein Nachteil, wenn wir uns in diesem Sinne bescheiden. Und dieses Bescheiden widerspricht keineswegs dem Anspruch auf Meisterschaft – wenn man diesen Begriff denn überhaupt noch verwenden möchte.
Denker der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben auf die rapiden Veränderungen der Moderne reagiert, sie waren fasziniert davon und kamen gleichzeitig schwer damit zurecht. Abi Warburg, Maurice Halbwachs oder Walter Benjamin, sie haben über das Erinnern geschrieben. Und über das Vergessen. Auch über das Vergessen dessen, was Benjamin Erfahrung nannte, die, wie er schrieb, wie ein Ring von Geschlecht zu Geschlecht wandert.
Denn so, von Generation zu Generation, von Mund zu Ohr, wurde über lange Zeit auch musikalisches Wissen weitergegeben. Neben den großen musiktheoretischen Lehren und Analysen des 18. und 19. Jahrhunderts, neben den großen musikwissenschaftlichen Diskursen war eine Erfahrungs- und Erinnerungspflege möglich, die ohne Verschriftung stattfand. Diese generationenübergreifende Erfahrungstradition fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Ende und reduzierte sich auf den Anspruch individueller Erinnerung und Überzeugung.
Es wurden wie schon gesagt neue Traditionen geschaffen, die jedoch keinen oder kaum mehr Bezug zu den alten Erfahrungen fanden, die deshalb traditionslos waren, z.B. die schon genannte Überzeugung egalitär zu verstehender Tongestaltung oder die Überzeugung von ausgrenzendem Spezialistentum, z.B.: nur klassische Musik oder nur 19. Jahrhundert oder nur solistische Brillanz. Oder die Überzeugung, dass die Qualität der eigenen Meisterschaft ausreichend ist. Diese damals neuen Sicherheiten taten so, als hätte es keinen Traditionsbruch gegeben. Er war vergessen.
Wobei daran erinnert werden muss, dass nicht nur im 20. Jahrhundert vergessen wurde. Als Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 Bachs Matthäus Passion erstmalig wieder aufführte, geschah das bewusst als Anliegen, dieses Werk aus der Vergessenheit zu befreien und es erklärtermaßen mit Respekt vor dem historischen Original zu präsentieren. Aber Mendelssohn griff trotz aller Authentizitätsansprüche aktiv in die Partitur ein, er veränderte, ließ weg, setzte historisch unkorrekt neue Instrumente ein etc.. Mendelssohn war einer der ersten Vertreter des damals ganz neuen Typus eines künstlerischen Musikhochschulprofessors. Obwohl er sehr wohl nach historischen Ursprüngen fragte, verwechselte er mögliches gegebenes Wissen seiner Zeit mit seiner individuellen Meinung darüber, was und wie es richtig sei.
Das gab es also wohl immer. Das Vergessen im 20. Jahrhundert aber war grundsätzlicher, es war vom Verlust des Gegenwartsbezugs geprägt, den Mendelssohn sehr wohl hatte, und es war geprägt von historisch ganz neuen kulturindustriellen Vermarktungsstrategien.
Und heute? Im 21. Jahrhundert? Zum Vergessen gehört leider, dass man es nicht merkt. Doch haben schon seit längerer Zeit neue Erkenntnisse die im 20. Jahrhundert behaupteten Gewissheiten überwunden und die Perspektive neuer künstlerischer Orientierungen eröffnet. Das zeigt sich nicht zuletzt mit neuen Fragen an Ausbildung und künstlerische Bedeutung.
In diesem Zusammenhang lässt sich also nicht sagen, dass alles immer nur schlechter wird.
Aus den neuen Fragen ergibt sich geradezu sachlich die Chance für Reformen der künstlerischen Lehre.
Ich würde mich freuen, wenn wir hier an unserer Hochschule auch diesen Schritt schaffen könnten.
Haben Sie Dank fürs Zuhören